1. Jh.: Bruno hatte nicht die Absicht gehabt, einen Orden zu gründen. Das zeigt auch die Tatsache, dass er keine Ordensregel verfasst hatte. Für ihn war das Leben in der Kartause die Verwirklichung einer ganz persönlichen Berufung.
Doch bald nach seinem Tod entstanden weitere Kartausen und die Frage nach einer verbindlichen Regel wurde dringlich. Deshalb verfasste der 5. Prior, Guigo I., zwischen 1121 und 1127 unter Berücksichtigung der Regel des hl. Benedikt (+ ca.547), des Vaters des abendländischen Mönchtums, und der Einsiedlerregeln des hl. Hieronymus (+420) und Johannes Kassians (+430) eine eigen-ständige Ordensregel, consuetudines (Gebräuche) genannt, die 1133 von Papst Innozenz II. approbiert wurde und die mit den Statuten, den Beschlüssen der Generalkapitel, die Grundlagen der Ordensverfassung bildete.
Nach ihrer letzten, durch das 2. Vatikanische Konzil und das neue Kirchenrecht bedingten Überarbeitung liegt die Ordensregel seit 1991 als Statuta Ordinis Cartusiensis (Statuten des Kartäuserordens) vor.
Der Orden erlebte im 14. und 15. Jahrhundert eine Blütezeit, mit 195 Kartausen in 12 Provinzen (ca. 2500 Chormönche, 2200 Laienbrüder und 180 Nonnen) war er über ganz Europa verbreitet. In diese Zeit fällt auch die Gründung der niederösterreichischen Kartausen Mauerbach (1313), Gaming (1330) und Aggsbach (1380).
Nach Verfolgungen im 16. Jh. durch die Reformatoren erlebte der Orden eine neuerliche Blüte im 17. Jh. Um 1680 umfasste er 2300 Patres, 1500 Brüder – das bedeutete 13 bis 14 Patres und 8 bis 9 Brüder pro Kloster - und 170 Nonnen.
Der achte und letzte Brand brach unter dem Priorat von Dom Innocent Le Masson (1675-1703) am 10. April 1676 aus. Im zwölf Jahre dauernden, großzügig konzipierten Wiederaufbau nahm die Große Kartause ihre heutige Gestalt an.
Das 18. Jh. brachte eine schwere Krise. So wurden während der französischen Revolution 67 Kartausen geschlossen, 1782 hob Kaiser Joseph II. im Habsburgerreich 22 Kartausen auf, darunter die Kartausen Mauerbach bei Wien, Gaming im Ötscherland und Aggsbach in der Wachau. - Nach ihrer Vertreibung aus dem Mutterkloster im Jahre 1792 konnten die Mönche erst 1816 wieder die Große Kartause in Besitz nehmen.
20. Jh.: 1903 mussten die Kartäuser wegen der kirchenfeindlichen Politik Frankreichs unter der III. Republik wiederum das Land verlassen und konnten erst 1940 nach einem 37-jährigen Exil in der italienischen Kartause Farneta wieder in die Große Kartause zurückkehren.
21. Jh.: Heute ist der Orden eine kleine Gemeinschaft. Es gibt 23 Kartausen (18 in Europa, und je 1 in den USA, Argentinien und Brasilien, dazu 2 Neugründungen in Südkorea - 1 Männer- und 1 Frauenkloster). 18 davon sind Männerklöster mit ca. 370 Patres und Laienbrüdern.
Der weibliche Zweig des Ordens entstand im 12 Jh. In den heute noch existierenden 5 Frauenklöstern leben ca. 85 Nonnen (Stand Dez. 2002).
Frankreich:
Italien:
Spanien:
Deutschland:
England:
Schweiz:
Slowenien:
Argentinien:
Brasilien:
USA:
Südkorea:
Die Lawine: Im Jahre 1132 stürzte eine riesige Lawine zu Tal und begrub das kleine Kloster unter sich; die Hälfte der Kartäuser, 6 Mönche und 1 Novize, kamen dabei ums Leben. Prior Guigo ließ das Kloster etwas weiter talabwärts, an der Stelle, wo es sich noch heute befindet, neu erbauen.
Brände: Insgesamt 8 mal wurde die Kartause ein Raub der Flammen; der 1. Brand brach 1300 aus, zum letzten Mal brannte das Kloster am 10. April 1676 nieder.
Von der Lawinenkatastrophe berichtet die Magisterchronik (1136):
„Im 23. Jahr des Priorats Guigos stürzte eine unglaubliche Schneemasse von den Berggipfeln mit plötzlicher Wucht hernieder; der fürchterliche Strudel der gewaltigen Schneemassen begrub bzw. riss alle Zellen außer einer mit sich und mit ihnen sechs Mönche und einen Novizen. Jedoch wurde, zum Trost der Überlebenden und als Beweis, dass die Verunglückten die ewige Seligkeit erlangt hatten, am 12. Tag nach der Katastrophe einer der verschütteten Mönche, Aduin aus Lothringen, wie durch ein Wunder nicht nur lebend, sondern auch bei klarem Bewusstsein und mit intaktem Gedächtnis aus den Schneemassen geborgen. Er wurde in den kleinen Kreuzgang gebracht und antwortete denen, die ihm zuredeten, mit einigen Worten voll wunderbarer Sanftheit und zärtlicher Liebe. Er legte die Beichte ab und empfing das Sakrament der Krankensalbung, dann umarmten ihn alle Brüder; schließlich entschlief er, nach einem so langen Fasten durch die Nahrung des Leibes und Blutes des Herrn gestärkt, ganz friedlich in Gott.“ (La Grande Chartreuse17, 27/28)
Die Kartäuser haben immer wieder Vertrauen in Gott trotz des Leides gezeigt, so z.B. beim 5. Brand der Großen Kartause 1592:
„Am Vorabend des Allerheiligentages brach unvermutet ein schrecklicher Brand aus. Dom Jérôme begab sich sofort - nicht an den Ort der Brandkatastrophe, sondern - in die Kirche. Er öffnete den Tabernakel, nahm den Kelch in seine Hände und wiederholte immer wieder am Fuß des Altares kniend: ‚Gott hat alles gut gemacht.’ Nachdem die Mönche vergeblich versucht hatten, die Gewalt des Brandes einzudämmen, kamen sie einer nach dem anderen, knieten sich um ihren Oberen und beteten mit ihm. Das Feuer kam immer näher: Schon stand das Kirchendach in Flammen, bald verbrannten die Stricke, an denen die Lampen des Altarraums und Chors befestigt waren, und diese fielen krachend auf den Boden; dies war für den Reverendus Pater das Zeichen zum Verlassen der Kirche. Er und all seine Mönche brachten in einer Prozession die heilige Eucharistie in die Kapelle Notre-Dame de Casalibus. … Dom Jérôme wandte sich von einer Anhöhe der brennenden Kartause zu, segnete sie mit dem heiligen Sakrament und sprach: Der Name des Herrn sei gepriesen in alle Ewigkeit.“ (La Grande Chartreuse17, S. 143)
Das Zentrum des Ordens ist die Große Kartause; ihr Vorsteher, der Prior, ist gleichzeitig Ordensgeneral. Er leitet auch die alle zwei Jahre stattfindenden Generalkapitel, bei denen die Prioren aller Kartausen versammelt sind und u. a. auch Rechenschaft über ihre Amtsführung geben müssen. Das Generalkapitel als oberste Instanz des Ordens bestätigt die Prioren oder setzt sie ab.
Wie das Mutterkloster wird jede Kartause von einem Prior geleitet. Ihm stehen die Offizialen zur Seite: sein Stellvertreter, der Vikar, dann der für die Brüder und die wirtschaftlichen Belange zuständige Prokurator, der Novizenmeister und der für die Liturgie verantwortliche Sakristan.
Jede Kartause wird alle zwei Jahre visitiert. Dieses strenge Kontrollsystem verhinderte meist wirksam Fehlentwicklungen, worauf auch der Satz Cartusia numquam reformata, quia numquam deformata est (die Kartause wurde nie reformiert, weil sie nie in Verfall geriet) hinweist.
Das Kartäuserleben ist, wie schon erwähnt, eine Verbindung von Eremitentum (Einsiedlerdasein) und Zönobitentum (Leben in der Mönchsgemeinschaft). Auch die bauliche Gliederung jeder Kartause in den Zellentrakt (Einsiedeleien) einerseits und die Gemeinschaftsräume (Kirche, Kapitelsaal und Speisesaal) andererseits trägt diesem Doppelaspekt Rechnung.
a) Das Eremitendasein:
Als Einsiedler verbringt der Kartäuser die meiste Zeit seines Lebens in der Zelle. Sie soll durch ihre Abgeschiedenheit vom Lärm der Welt die äußere Voraussetzung für das Offen sein für Gott im Gebet und in der Betrachtung bilden.
Die Zellen:
Sie sind kleine Einsiedeleien, die durch den Großen Kreuzgang untereinander verbunden sind. In vielen Kartausen sind die Zellen einstöckige Häuschen, bestehend aus vier kleinen Räumen und einem kleinen Garten. Über eine Treppe erreicht der Kartäuser zunächst ein im ersten Stock gelegenes Vorzimmer. Es wird Ave Maria genannt, weil der Kartäuser hier jedes Mal, wenn er eintritt, ein ,,Ave Maria“ betet - die Kartäuser verehren ganz besonders die Mutter Gottes; sie und Johannes der Täufer sind die beiden Schutzpatrone des Ordens.
Der nächste Raum ist das Cubiculum, der Wohn- und Schlafraum. Hier betet, meditiert und studiert der Mönch. Als Schlafstätte dient ihm ein Bretterverschlag mit einem Strohsack als Matratze. Das Holz für den kleinen Eisenofen muss der Mönch sich selbst zerkleinern, es lagert in einem Raum im Erdgeschoss. Daneben befindet sich die Werkstätte, in der er sich durch körperliche Arbeit (z. B. mit Drechseln, Emaillieren) den nötigen Ausgleich zur geistigen Tätigkeit schafft. Auch die Arbeit im Gärtchen hat die gleiche Funktion. Das Ziehen von Obst, Gemüse und Blumen kommt der Gemeinschaft zu Gute.
Schweigen, Fasten, Gebet:
Viele Stunden verbringt der Mönch in der Zelle im Gebet und mit dem Studium der Hl. Schrift. Er hat die Einsamkeit gewählt, um Gott zu suchen, ihn zu finden und mit ihm innerlich vereint zu sein, aber auch, um im Namen seiner Schwestern und Brüder in der Menschheitsfamilie hinzutreten vor Gott. Täglich liest der Mönch die Messe allein in einer kleinen Kapelle.
Tagesablauf:
Uhrzeit | Tätigkeit |
---|---|
7.00 Uhr (Zelle) | Prim, Gebet, Schriftlesung |
8.30 Uhr (Zelle) | Terz |
8.45 Uhr (Kirche) | Gemeinsame Konventmesse, dann Einzelmess in Kapelle |
10.45 Uhr (Zelle) | Sext, Studium, Arbeit |
12.00 Uhr (Zelle) | Mittagessen, Ausruhen |
13.45 Uhr (Zelle) | Non, Studium, Arbeit |
16.00 Uhr (Zelle) | Vesper des Marienoffiziums |
16.45 Uhr (Kirche) | Gemeinsames kanonisches Offizium, anschließend Studium in der Zelle |
17.45 Uhr (Zelle) | Abendessen |
18.00 Uhr (Zelle) | Gebet |
18.45 Uhr (Zelle) | Komplet, Nachtruhe |
23.30 Uhr (Zelle) | Matutin des Marienoffiziums |
0.15 Uhr (Kirche) | Gemeinsamer Gesang von Matutin, Laudes |
2.30 Uhr (Zelle) | Laudes der Hl. Jungfrau, Nachtruhe |
An den Wochentagen wird dem Kartäuser das Essen durch eine kleine Öffnung der Zelle von einem Bruder gereicht. Der Mönch nimmt nur zwei Mahlzeiten pro Tag zu sich; ein ausgiebigeres Mahl mittags, ein karges Essen abends. Auf Fleischgenuss verzichtet er sein Leben lang, auf Milchprodukte an allen Freitagen sowie in der gesamten Advent- und Fastenzeit. Während des Ordensfastens vom 14.September (Fest der Kreuzerhöhung) bis Ostern gibt es nur eine Mahlzeit mittags und abends nur Brot, Wasser und etwas Wein.
Gestattet es seine Gesundheit, fastet der Kartäuser wöchentlich zusätzlich einmal bei Wasser und Brot. — Es sei bemerkt, dass die Mönche häufig ein hohes Alter erreichen.
b) Das Leben in der Gemeinschaft:
Die Statuten des Kartäuserordens verweisen klar auf die Bedeutung des Gemeinschaftslebens:
„Die heilige Einsamkeit, der wir uns hauptsächlich widmen, wird durch ein rechtes Maß gemeinschaftlichen Lebens gemildert und ergänzt. Denn die Gottesliebe, die in der Zelle entzündet und genährt wird, bildet auch das Band zwischen uns und unseren Brüdern, mit denen wir zu festgesetzten Zeiten und an bestimmten Orten zusammenkommen. Bei dieser Gelegenheit soll jeder von uns die Bruderliebe und die Selbstverleugnung in Wort und Tat bezeugen.“
Die Orte des Zusammentreffens und gemeinsamen Lebens sind die Kirche, der Kapitelsaal und der Speisesaal.
Die Kirche:
Charakteristisch für jede Kartäuserkirche war der Lettner, eine von einem Durchgang und Fensteröffnungen durchbrochene Wand, die früher die Patres (Chormönche) von den Brüdern trennte. Heute hat er seine Funktion verloren oder fehlt manchmal überhaupt. In der Kirche finden sich die Mönche vormittags zur Konventmesse und nachmittags zur Vesper ein; von ca. 0.15 Uhr bis 2.30 Uhr werden Matutin und Laudes gebetet und gesungen.
Das Refektorium:
An Sonn- und Feiertagen speisen die Mönche gemeinsam im Refektorium (Speisesaal). Sie bewahren auch hier Stillschweigen und lauschen während des gesamten Mahles der Tischlesung. Erst nach dem Essen, während der Rekreation (Erholung), sowie bei dem einmal wöchentlich stattfindenden Spaziergang ist es den Mönchen gestattet, miteinander zu sprechen.
Der Kapitelsaal:
Hier trifft sich die Mönchsgemeinschaft zu Beratungen. Da der Mönch weder über Radio, TV noch Zeitungen verfügt, wird er hier durch den Prior über wichtige Ereignisse in der Welt informiert.
c) Die Stufen des Kartäuserlebens
Die Patres (Chormönche, meist Priestermönche):
Nach einer ersten, dreimonatigen Probezeit, dem Postulat, in welcher der Postulant alle geistlichen Übungen mitmacht, entscheidet die Gemeinschaft, ob der Betreffende für die zweijährige Probezeit des Noviziats zugelassen wird. Der Novize erhält ein weißes Ordenskleid mit kurzem Überwurf (Skapulier) und einem schwarzen Chormantel.
Nach zwei Jahren Noviziat legt er die Gelübde der Armut, der Ehelosigkeit und des Gehorsams zunächst für drei Jahre ab = zeitliche Profess (zeitliche Gelübde). Er bekommt jetzt ein langes Skapulier, das durch je ein Seitenband links und rechts zusammengehalten wird, was dem Ordenskleid die Form eines Kreuzes verleiht.
Nach einer Erneuerung der Gelübde für zwei weitere Jahre erfolgt schließlich nach insgesamt fast 7 ½ Jahren Vorbereitungszeit die definitive Aufnahme in den Orden durch die feierliche Profess (feierliche oder ewige Gelübde).
Die Brüder:
Die Konversbrüder:
Sie legen – ähnlich wie die Chormönche- nach siebeneinhalbjähriger Probezeit (1/2 Jahr Postulat, 2 Jahre Noviziat, 5 Jahre zeitliche Gelübde) die ewigen Gelübde ab.
Die Donatsbrüder:
Donation bedeutet eine Bindung an das Kloster ohne die Ablegung von Gelübden. Die Probezeit der Donatsbrüder dauert ebenfalls 7 ½ Jahre, dann können sie sich durch die dauernde Donation in den Dienst des Klosters stellen oder die Donation alle 3 Jahre erneuern.
Die Brüder leben in einräumigen Zellen, nehmen am Gottesdienst teil, beten in der Zelle und am Arbeitsplatz. Ihre sprachliche Kommunikation ist auf das Notwendigste beschränkt, die Arbeitszeit beträgt zwischen 5 und 7 Stunden pro Tag, das nächtliche Gebet in der Kirche ist allerdings kürzer als das der Chormönche (von Mitternacht bis ca. 1.45 Uhr). - Auch der hl. Bruno schätzte die Brüder besonders (siehe seinen Brief).
Die Kartäuserinnen
Ihr Leben gleicht dem der Patres. Es gibt auch Konvers- und Donatsschwestern.
d) Der Lebensunterhalt
Die Kartäuser müssen sich selbst erhalten. Die Hauptlast ruht auf den Brüdern, die alle Arbeiten im Kloster und in der Landwirtschaft verrichten. Bestimmte Arbeiten können zusätzlich weltliche Angestellte durchführen. Die Patres arbeiten nur in den Zellen, ca. drei Stunden am Tag.
Die wichtigste Einnahmequelle des Ordens ist heute die Erzeugung der weltberühmten Chartreuseliköre. Die bekannte ,,Chartreuse verte“ (Grüne Chartreuse, 55%) und ,,Chartreuse jaune“ (Gelbe Chartreuse, 40%) haben als Basis das ,,Lebenselexier“ (70%), ein Destillat aus 130 Kräutern, das auf ein Geheimrezept aus dem Jahre 1605 zurückgeht.
Deus solus quaeretur in perfecta solitudine (Gott allein soll gesucht werden in vollkommener Einsamkeit). Den großen biblischen Gestalten wie Abraham, Hiob, Moses, den Propheten und Johannes dem Täufer gleich, aber auch Christus, dem Herrn nachfolgend, der immer wieder in der Einsamkeit Zwiesprache mit seinem Vater hielt, sucht der Kartäuser den Anruf Gottes in der Einsamkeit zu vernehmen und Ihm zu begegnen.
„Unser Bemühen und unsere Berufung besteht vornehmlich darin, uns dem Schweigen und der Einsamkeit der Zelle zu widmen. Denn die Zelle ist das heilige Land und der Ort, wo der Herr und sein Diener sich häufig miteinander unterhalten wie jemand mit seinem Freund. Oft zieht dort das Wort Gottes die treue Seele an sich, der Bräutigam verbindet sich mit seiner Braut, Irdisches wird dem Himmlischen, Menschliches dem Göttlichen geeint.“ (Statuten, Kap.4,1).
Immer wieder hat die katholische Kirche die Bedeutung der kontemplativen Orden hervorgehoben, so auch das 2.Vatikanische Konzil:
„Die gänzlich auf die Kontemplation hingeordneten Institute, deren Mitglieder in Einsamkeit und Schweigen, anhaltendem Gebet und hochherziger Buße für Gott allein da sind, nehmen - mag die Notwendigkeit zum tätigen Apostolat noch so sehr drängen - im mystischen Leib Christi, dessen 'Glieder nicht alle den gleichen Dienst verrichten' (Röm. 12,4), immer eine hervorragende Stelle ein. Sie bringen Gott ein erhabenes Lobopfer dar und schenken dem Volk Gottes durch überreiche Früchte der Heiligkeit Licht, eifern es durch ihr Beispiel an und lassen es in geheimnisvoller apostolischer Fruchtbarkeit wachsen." (Perfectae caritatis)
Das Konzil macht deutlich, dass das „verborgene Leben“ nicht eine egozentrische Weltflucht ist, sondern ein wichtiger Dienst an den Schwestern und Brüdern im Volk Gottes. Das gilt auch für die Rolle der Kartäuser:
„Welchen Gewinn und göttlichen Genuss die Einsamkeit und das Schweigen in der Einöde ihren Freunden bereitet, das wissen nur die, die es erfahren haben. Diesen besten Teil haben wir jedoch nicht nur zu unserem eigenen Nutzen erwählt. Mit der Wahl des verborgenen Lebens verlassen wir ja die Menschheitsfamilie nicht. Indem wir nur für Gott da sind, erfüllen wir vielmehr eine Aufgabe in der Kirche, in der das Sichtbare auf das Unsichtbare, die Tätigkeit auf die Beschauung hingeordnet ist.“ (Statuta ordinis cartusiensis, 34/1)
Worin besteht nun konkret die Aufgabe der Kartäuser? Wie ist ein Dienst an Gott und den Menschen in dieser Form möglich?
a) Gottesliebe:
Wie jeder Christ, versucht auch der Kartäuser, trotz menschlicher Begrenztheit und Schwäche, das größte Gebot zu erfüllen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mt. 22,37-39). Es gibt viele Wege, diese Liebe zu leben; einer davon ist derjenige der Kartäuser.
Die Liebe zu Gott findet ihre Verwirklichung im Gebet, in der Betrachtung, der Liturgiefeier und der Askese.
Und aus dieser Liebe zu Gott entspringt die Liebe zu den Schwestern und Brüdern in der Welt. Sie zeigt sich in folgenden Formen der Solidarität:
b) Nächstenliebe als spirituelle und materielle Solidarität:
„Um der barmherzigen Liebe unseres Gottes und Heilandes Jesus Christus willen, der sich selbst am Kreuzesholz ganz für uns hingegeben hat, ermahnen und bitten wir schließlich mit großem Nachdruck alle Prioren unseres Ordens, entsprechend den Mitteln ihrer Häuser, aus ganzem Herzen und freigebig Almosen zu spenden, da wir überzeugt sind, dass es Diebstahl an den Armen und den Bedürfnissen der Kirche wäre, in unmäßiger Weise Ausgaben zu tätigen oder etwas zurückzubehalten. Deshalb wollen wir an der Bestimmung der Güter für die Allgemeinheit festhalten und so die ersten Christen nachahmen, von denen keiner etwas sein Eigentum nannte, sondern die alles gemeinsam hatten.“ (Statuta ord. cart., 29/19)
Dazu einige Beispiele aus der Geschichte:
„ In der Großen Kartause gab man (in der Zeit vor 1792, dem Jahr der Vertreibung der Mönche aus dem Kloster), so ein Augenzeuge, den Armen jede Woche 1600 Pfund Brot. […] Man teilte Suppe aus […] und gab jedem Armen, der vorbeikam, Brot. Man kleidete auch jedes Jahr hundert Arme ein. […] Um den Armen der Gegend zu helfen, unterhielten die Kartäuser eine Apotheke.“
„ […] Die Kartäuser hatten „Leben und Wohlstand in den Landstrich gebracht, sie waren der Schutzengel des Armen und die Stütze des Waisen und sie hatten mehr als einmal in Hungerjahren ganze Dörfer ernährt.“
„1861 eröffnete der Generalprior Dom Jean-Baptiste Mortaize in der Correrie (=Wirtschaftgebäude nahe der Großen Kartause) ein kleines, 30 Betten umfassendes Spital. Während seines 30-jährigen Bestehens wurden zehn- bis zwölftausend Kranke unentgeltlich behandelt. Aber die Kartäuser ersetzten es gegen 1890 durch das schöne Spital von Saint-Laurent-du-Pont (ein ca. 25 km entferntes Städtchen), das sie auf ihre Kosten erbauten und für dessen Unterhalt sie bis zu ihrer Vertreibung 1903 auch aufkamen.“ (La Grande Chartreuse17, S. 181/182 u. S. 261)
Bis zur ihrer Aufhebung 1782 führte die kleine niederösterreichische Kartause Aggsbach die Katharinenspende durch: „Ottos Gemahlin Agnes … (aus der Stifterfamilie der Maissauer) vermachte am 30. November 1433 … der Kartause ihren Schmuck; mit dem Erlös sollte sie Güter und Renten kaufen, um vom Ertrag alljährlich am St. Katherinentag zu Ehren der hl. Katherina beim Kloster an recht arme und bedürftige Leute eine Spende von Wein und Brot zu verteilen.“
a) Solidarität in der Suche nach Gott und Sinn:
Zunächst ist der Kartäuser solidarisch mit allen, die ehrlichen Herzens auf der Suche nach dem Absoluten sind. Durch sein geduldiges und bescheidenes Warten auf den Anruf Gottes zeigt er, dass die Gottesbegegnung nicht durch Techniken (etwa esoterischer oder östlicher Weisheitslehren) erzwingbar ist, sondern dass sie aus christlicher Sicht ein unverfügbares Geschenk Gottes ist.
Durch die schmerzliche Erfahrung der Abwesenheit Gottes, die auch der Kartäuser manchmal macht, ist er mit all jenen verbunden, die an der scheinbaren Absurdität der Welt und des Daseins leiden. Die beglückende Erfahrung der Nähe Gottes hingegen lässt auch die Schwestern und Brüder wissen, dass der Mensch nicht in einem kalten Universum alleingelassen ist, sondern dass das Streben nach Sinn und Glück ein erreichbares Ziel hat: den liebenden Gott.
b) Solidarität im Gebet für uns und an unser statt:
Die zweite Komponente kartusianischer Solidarität beruht auf der Lehre des Apostel Paulus vom mystischen Leib Christi:
„ ... Wie wir an dem einen Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder denselben Dienst leisten, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, als einzelne aber sind wir Glieder, die zueinander gehören. Wir haben unterschiedliche Gaben, je nach der uns verliehenen Gnade.“ (Röm., 12,3-6)
Die Akte eines Gliedes aber betreffen alle anderen:
„Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm.“ (l. Kor. 12,26).
Ebenso gilt aber: Wenn der Kartäuser vor Gott tritt, wenn er sich Gott durch Gebet und Arbeit, Betrachtung und Askese hingibt, so tut er dies auch im Namen seiner Brüder und für sie. Seine Hingabe wird zur Hingabe aller:
„Wenn wir daher wirklich Gott anhangen, verschließen wir uns nicht in uns selbst. Im Gegenteil: unser Geist wird offen und unser Herz wird so weit, dass es das ganze Weltall und das Heilsmysterium Christi zu umfassen vermag. Getrennt von allen, sind wir eins mit allen, damit wir stellvertretend für alle vor dem lebendigen Gott stehen.“ ( Statuta ord. Cart., 34/2)
Neben dem stellvertretenden Gebet sehen die Kartäuser im fürbittenden Gebet eine wichtige Aufgabe:
„Immer schon verweist die Kirche darauf, dass die sich allein der Betrachtung widmenden Mönche eine Aufgabe der Fürsprache erfüllen. … Durch Christus, ‚der zur Rechten Gottes sitzt und der allezeit lebt, um für die Menschen einzutreten’ (Röm 8,34 u. Hebr 7,25) tragen sie vor Gott die Sehnsüchte und Probleme der Welt sowie die Anliegen und Sorgen der ganzen Kirche." (La Grande Chartreuse17, S.106)
Und Papst Johannes Paul II. bekräftigte in seiner Ansprache an die Mönche der Kartause Serra San Bruno vom 5. Oktober 1984:
„Euch sind die Lebensumstände der Brüder, die an die Pforte eurer Einsamkeit klopfen, nicht fremd. Sie nehmen ihre Probleme, ihre Leiden, die Schwierigkeiten des Lebens mit zu euch. Vermittelt ihnen, trotz aller Rücksichtnahme auf die Erfordernisse eures kontemplativen Lebens, die Freude Gottes, versichert ihnen, dass ihr für sie betet, dass ihr eure Entbehrungen aufopfert damit auch sie Kraft und Mut an der Quelle des Lebens schöpfen, die da ist Christus“. (La Grande Chartreuse17, S. 107)
c) Solidarität durch das Glaubenszeugnis:
Es gibt noch einen dritten Bereich, in dem sich die Solidarität der Kartäuserinnen und Kartäuser zeigt: die geschwisterliche Ermahnung durch ihr Beispiel, sich auf das Wesentliche zu besinnen, trotz oder wegen der Schönheit der Schöpfung nicht auf den Schöpfer, den Geber alles Guten, zu vergessen.
Jedes Apostolat impliziert ein Zeugnis-Geben. So ist auch das verborgene und entbehrungsreiche Leben des Kartäusers ein Zeugnis und eine Mahnung: Der Mensch soll seine Hoffnung nicht auf vergängliche Werte setzen, sondern auf Den, der seine Liebe durch Jesus von Nazareth geoffenbart hat.
„Durch unsere Profess streben wir einzig nach Dem, der ist. Dadurch geben wir der Welt, die sich zu sehr in den irdischen Dingen verstrickt, Zeugnis, dass es außer Ihm keinen Gott gibt.“ (Statuta ord. cart., 34/3)
Zusammenfassend kann man sagen:
„Wie für alle Mönche und für alle Christen ist das Ziel des Kartäuserlebens die Vollkommenheit der Liebe, so wie sie Jesus durch seine Worte, sein Leben, seine Taten und besonders durch seinen Tod am Kreuz gelehrt hat. Der Kartäuser geht dazu einen ganz bestimmten Weg: den des inneren Lebens, eines Lebens in Einsamkeit, das soviel als möglich der Betrachtung gewidmet sein soll. ... Dieser Weg ... ist verwirrend, wenn man ihn nur äußerlich betrachtet, denn er scheint jeden Horizont, jede Offenheit für seine Menschenbrüder, für die gesamte Kirche, zu verschließen. Und doch ist es ein befreiender Weg für diejenigen, die ihn im Glauben und in Beharrlichkeit beschreiten, und allein ihr Beispiel und ihre Erfahrung können seinen Wert bestätigen.“ (Ein Kartäuser der Kartause Montrieux)
Wir „in der Welt draußen“, lieber Besucher dieser Internet-Seiten, haben auch nicht nur annähernd die zeitliche Möglichkeit, uns so wie die Kartäuser durch eine erfüllte Stille offen zu halten für Gottes Anruf und Zuspruch.
Der hl. Bruno und die Kartäuser wollen uns jedoch Mut machen, die Zeit unseres Lebens aktiv zu gestalten und je nach unserer Verantwortung Zeiträume für Wesentliches freizuhalten: für Menschen, für die wir verantwortlich sind (Partner, Kinder, Freunde…), und auch einen - wenigstens kleinen - Zeitraum für Gott. Dies könnte für uns bedeuten, uns täglich wenigstens 10 bis 15 Minuten der Stille zu gönnen, um über Wesentliches nachzudenken, um unserem Gewissen, dem „Sinn-Organ“ (Viktor FRANKL), zuzuhören oder um durch das Lesen einiger Zeilen der Bibel Trost zu finden und Mut zu fassen. - Weitere Gedanken in: Elisabeth LUKAS: Spirituelle Psychologie, Kösel-Verlag und: Der hl. Bruno und die Kartausen Mitteleuropas, Analecta cartusiana 190 (erhältlich über den Verein der Freunde der Kartause Aggsbach; Buchhandlungen: Dom-Verlag Wien; Domverlag Melk; Herder Wien).
Die Übersetzung folgt meist derjenigen von P. Blüm OCart in Posada: Der heilige Bruno (Köln 1987), berücksichtigt aber auch die Übertragung von P. Greshacke in: Die frühen Kartäuserbriefe (Freiburg 1992) sowie das lateinische Original und die französische Übersetzung in: Lettres des Premiers Chartreux par un Chartreux (Paris 1962).
a) Der Brief an Radolf (Auszüge)
In der Zeit der Verbannung aus Reims hatten Bruno und seine Freunde Radolf und Fulco ein Leben radikaler Gottsuche gelobt. Etwas vor 1100 erreicht Radolf, Dompropst des Kathedralkapitels von Reims, ein von Bruno in Santa Maria verfasster Brief:
Bruno grüßt den ehrwürdigen Herrn Radolf, Propst von Reims, der aufrichtiger Zuneigung würdig ist.
Was soll ich von dieser Einsamkeit sagen, von ihrer lieblichen Lage und ihrem gemäßigten und gesunden Klima? Sie bildet eine weite und anmutige Ebene, die sich zwischen Bergen hin erstreckt, mit grünen Wiesen und blühenden Weiden. ...
Hier erwirbt man jenes Auge, durch dessen klaren Blick der Bräutigam von Liebe verwundet wird und dessen Reinheit Gott schauen lässt. (vgl. Hl 4,9 und Mt 5,8) Hier übt man eine mühevolle Muße und ruht in einer gelassenen Tätigkeit. Hier verleiht Gott seinen Kämpfern für die Mühe des Kampfes den ersehnten Lohn (vgl. 2.Tim 4,7f und Mt 25,20f.), nämlich ,den Frieden, den die Welt nicht kennt und die Freude des Heiligen Geistes’ (Röm 14,17).
Das ist ,jener bessere Teil, den Maria erwählte, der ihr nicht genommen werden wird.’ (Lk 10,42) ... Wie sehr wünschte ich, liebster Bruder, du möchtest einzig sie lieben, damit die Wärme ihrer Umarmung dich zu göttlicher Liebe entflamme. Wenn ihre Liebe sich einmal in deinem Herzen niederlässt, dann wirst du den schmeichlerischen und verführerischen Ruhm der Welt für gemein erachten und wirst die Reichtümer, welche die Seele so sehr beunruhigen und beschweren, zurückweisen und wirst dich vor den für Leib und Seele so schädlichen Vergnügungen ekeln.
Was ist ungerechter, was einem ungerechten und verrückten Geist eigener, was so schädlich und undankbar, als gegen Jenen arbeiten zu wollen, dessen Macht du weder zu widerstehen noch dessen gerechter Rache du zu entkommen vermagst? (vgl. Röm 2,3f.) ,Sind wir vielleicht stärker als Er?’ (1 Kor 10,22)
Wird Er, weil seine geduldige Barmherzigkeit uns jetzt zur Buße ruft, uns nicht am Ende wegen des Unrechts der Verachtung strafen? Was ist törichter, was der Vernunft und sogar der Natur widriger als das Geschöpf mehr als den Schöpfer zu lieben, und mehr dem Vergänglichen nachzufolgen als dem Ewigen, dem Irdischen mehr als dem Himmlischen?
Was aber ist ebenso gerecht wie nützlich, was liegt mehr in der menschlichen Natur und entspricht ihr mehr, als das Gute zu lieben? Und welches andere Sein ist so gut wie Gott? (vgl. Mk 10,8) Mehr noch, welches andere Gut gibt es außer Gott allein? Daher kommt es, dass die menschliche Seele die unvergleichbare Anziehungskraft, den Glanz und die Schönheit dieses Gutes teilweise wahrnehmend, von der Flamme der Liebe entzündet, spricht: ,Meine Seele dürstet nach Gott, dem lebendigen Gott: Wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen?’ (Ps 42,3)
b) Der Brief an seine Söhne, die Kartäuser
Als Bruno 1090 dem Ruf Papst Urbans nach Rom folgte, setzte er Landuin als Prior über die im Kartausental zurückbleibende Gemeinschaft ein. Ende 1099 oder Anfang 1100 brach Landuin trotz seines bedenklichen Gesundheitszustands nach Kalabrien auf. Er legte den ca. 1400 km weiten Weg zurück, um seinen verehrten Meister und Freund nochmals zu sehen, aber auch, um anstehende Fragen des Klosterlebens zu klären. Bruno gab ihm einen Brief an seine Söhne in der Kartause mit. Tragischerweise starb Landuin, der auf seinem Rückweg dem von Kaiser Heinrich IV. protegierten Gegenpapst Guibert (1080-1100) in die Hände fiel und diesen trotz Haft und Misshandlungen nicht anerkannte, am 14. September 1100. Sein treuer Begleiter, ein Laienbruder, brachte Brunos Brief nach Frankreich.
Beginn des Briefes unseres ehrwürdigen Vaters Bruno, den er in einer Einsiedelei in Calabrien namens La Torre geschrieben und von dort an seine Söhne, die Kartäuser, geschickt hat.
Seinen in Christus über alles geliebten Brüdern wünscht Bruno das Heil im Herrn.
Ja, ich juble auf und fühle mich zum Lobpreis und zur Danksagung gegenüber dem Herrn gedrängt. Und doch stöhne ich bitterlich auf. Gewiss, ich juble zu Recht wegen des Wachstums der Frucht eurer Tugenden auf, im Blick auf mich aber bin ich voll Schmerz und Scham, weil ich träge und nachlässig im Elend meiner Sünden daniederliege.
Auch ich freue mich, denn der allmächtige Gott grub, da ihr des Lesens unkundig seid, mit seinem Finger nicht nur die Liebe in eure Herzen ein (vgl. 2 Kor 3,3), sondern auch die Kenntnis seines heiligen Gesetzes. Denn eure Taten beweisen, was ihr liebt und wisst. Da ihr nämlich mit aller Sorgfalt und Mühe den wahren Gehorsam übt, der die Erfüllung der Gebote Gottes ist, Schlüssel und Siegel der ganzen geistlichen Disziplin, der niemals ohne viel Demut und vorzügliche Geduld geleistet wird, und den stets reine Liebe zum Herrn und wahre Nächstenliebe begleitet, ist es offenkundig, dass ihr die ganz süße und lebendige Frucht der göttlichen Schrift erntet.
Er stimmte nicht zu und widersprach mir unter einem Strom von Tränen und vielem Seufzen energisch, weil ihr ihm so viel bedeutet und weil er mit vollkommener Liebe an euch allen hängt. Daher wollte ich keinen Zwang ausüben, um weder ihm wehe zu tun noch euch, die ihr mir wegen eurer Tugend so teuer geworden seid.
Darum ermahne ich euch ernstlich und bitte euch demütig und inständig, beweist eure Liebe, die ihr zu eurem Prior und Vater im Herzen tragt, auch durch die Ausführung in der Tat, indem ihr ihm gütig und umsichtig zukommen lässt, wessen er wegen seiner vielfachen Erkrankungen bedarf. Vielleicht wird er mit eurem mitmenschlichem Bemühen nicht einverstanden sein und lieber Gesundheit und Leben gefährden als etwas von der Strenge der körperlichen Disziplin zu unterlassen, was ganz und gar nicht zu billigen ist. Vielleicht schämt er sich auch dessen, dass er als Erster in der Gemeinschaft gerade in diesem Punkt als Letzter dastehen würde, oder dass der eine oder andere von euch seinetwegen nachlässig oder träge werden könnte, was meiner Meinung nach auf keinen Fall zu befürchten ist.
Damit ihr aber der Gnade jener Liebestat nicht verlustig geht, bevollmächtigen wir euch, uns in dieser Angelegenheit zu vertreten, so dass es euch hiermit erlaubt ist, ihn mit sanfter Gewalt zu zwingen, das anzunehmen, was ihr ihm im Interesse seiner Gesundheit zubilligt.
c) Glaubensbekenntnis des Magister Bruno
Um die Jahrhundertwende verlor Bruno treue Freunde: Am 29. Juli 1099 starb Papst Urban II., am 22. Juli 1101 der Herrscher von Kalabrien und Sizilien, Graf Roger I., der Bruno bedeutende Schenkungen gemacht hatte, und am 14. September desselben Jahres verschied Prior Landuin.
Als Bruno den Tod nahe fühlte, rief er seine Gemeinschaft, etwa 50 Mönche, davon 30 Priester und Diakone und 20 Laienbrüder, zusammen. Dazu die Todesanzeige:
Als er wusste, dass die Stunde gekommen war, aus dieser Welt zu seinem Herrn und Vater zu gehen, rief er seine Mitbrüder zusammen. Nochmals ging er alle Abschnitte seines Lebens von Kindheit an durch und erinnerte an die bedeutenden Ereignisse seiner Zeit. Dann bekannte er seinen Glauben ...
Die Mönche zeichneten Brunos Glaubensbekenntnis getreulich auf:
Wir haben uns bemüht, das Glaubensbekenntnis Meister Brunos schriftlich aufzuzeichnen, das er bekannte, als er das Nahen seiner Stunde spürte, den Gang allen Fleisches zu gehen, denn er bat uns von Herzen, vor Gott Zeugen seines Glaubens zu sein.
(Im 4. Teil präzisiert der hl. Bruno seinen Glauben an den dreifaltigen Gott:)
Botschaft von Papst Johannes Paul II. an die Kartäuser zum 900. Todestag des hl. Bruno im Jahre 2001
An den Reverendus Pater Marcellin Theeuwes, Prior der Großen Kartause und Generalminister des Kartäuserordens, und an alle Mitglieder der Kartäuserfamilie.
Bruno war Zeuge des kulturellen und religiösen Umbruchs, der zu seiner Zeit das entstehende Europa heimsuchte; er war tätig in der Reform, welche die Kirche angesichts der internen Schwierigkeiten durchzuführen wünschte, und er war ein geschätzter Lehrer gewesen. In dieser Lage fühlt sich Bruno gerufen, sich dem einzigen Gut zu weihen, welches Gott selbst ist. „Gibt es etwas anderes, was so gut ist wie Gott? Ja noch mehr: Gibt es ein anderes Gut außer Gott allein? Darum spricht die heilige Seele, da sie die unvergleichliche Pracht, Strahlkraft und Schönheit dieses Gutes teilweise spürt, von der Flamme der Liebe entzündet: ‚Meine Seele dürstet nach dem starken und lebendigen Gott; wann werde ich kommen und vor dem Angesicht Gottes erscheinen?" (Brief an Radolf Nr. 16). Die Radikalität dieses Durstes brachte Bruno dazu, im geduldigen Hören auf den Geist zusammen mit seinen ersten Gefährten eine Art des eremitischen Lebens herauszubilden, wo alles die Antwort auf den Ruf Christi begünstigt, der zu jeder Zeit „Menschen auserwählt hat, um sie in die Einsamkeit zu führen und in inniger Liebe mit sich zu vereinigen" (Statuten des Kartäuserordens, 1,1). Durch diese Wahl des „Lebens in der Wüste" lädt Bruno seitdem die gesamte Gemeinschaft der Kirche ein, „niemals die höchste Berufung aus den Augen zu verlieren, nämlich immer beim Herrn zu sein" (Vita consecrata, Nr. 7).
Bruno zeigt seinen lebendigen Sinn für die Kirche — er, der fähig war, „sein" Vorhaben zu vergessen, um auf den Ruf des Papstes zu antworten. Er war sich bewusst, dass der Lauf auf dem Weg der Heiligkeit nicht ohne den Gehorsam gegenüber der Kirche gedacht werden kann, und hält uns damit vor Augen, dass es das wahre Leben in der Nachfolge Christi verlangt, sich seinen Händen zu überlassen, und es in der Selbstverleugnung einen Zuwachs an Liebe an den Tag legt. Eine solche Einstellung ließ Bruno in ständiger Freude und stetem Lobpreis leben. Seine Brüder stellten fest, dass „sein Angesicht stets vor Freude strahlte und er in Worten stets bescheiden war. Mit der Kraft eines Vaters zeigte er die Herzensgüte einer Mutter" (Einführung zur Totenrolle Brunos). Diese feinsinnigen Worte der Totenrolle drücken die Fruchtbarkeit eines Lebens aus, welches der Betrachtung des Antlitzes Christi geweiht war, der Quelle apostolischer Wirksamkeit und der Triebkraft der brüderlichen Liebe. Mögen die Söhne und Töchter des heiligen Bruno nach dem Beispiel ihres Vaters unermüdlich fortfahren, Christus zu betrachten. So „harren sie auf göttlichem Wachtposten aus und warten auf die Rückkehr ihres Herrn, um ihm sogleich zu öffnen, wenn er anklopft" (Brief an Radolf Nr. 4). Dies ist ein Anruf der alle Christen anregt, im Gebet wachsam zu bleiben, um ihren Herrn zu empfangen!
Wie kann man darum nur einen Augenblick daran zweifeln, dass ein solcher Ausdruck reiner Liebe dem Kartäuserleben eine außerordentliche missionarische Fruchtbarkeit verleiht? In der Abgeschiedenheit des Klosters und in der Einsamkeit der Zelle weben die Kartäuser geduldig und still das Hochzeitsgewand der Kirche, „bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat" (Offb 21,2); sie bieten täglich die Welt Gott dar und laden die gesamte Menschheit zum Hochzeitsfest des Lammes ein. Die Feier des eucharistischen Opfers stellt die Quelle und den Gipfel des gesamten Lebens in der Wüste dar; denn es formt jene, die sich der Liebe ausliefern, um zum Sein Christi selbst, damit sie die Gegenwart und das Tun des Erlösers in der Welt sichtbar machen für das Heil aller Menschen und zur Freude der Kirche.
„Du hast mich betört, Herr und ich ließ mich betören" (Jer 20,7). Glücklich ist die Kirche, da sie über das kartusianische Zeugnis verfügt, das Zeugnis von der völligen Verfügbarkeit gegenüber dem Geist und vom Leben, das vollständig Christus übergeben ist!
Ich lade darum die Mitglieder der Kartäuserfamilie ein, durch die Heiligkeit und Einfachheit ihres Lebens auch weiterhin eine Stadt auf dem Berg und eine Lampe auf dem Leuchter zu sein (vgl. Mt 5,14-15). Verwurzelt im Wort Gottes, gesättigt von den Sakramenten der Kirche, unterstützt vom Gebet des heiligen Bruno und der Brüder, sollen sie für die ganze Kirche und im Herzen der Welt „Orte der Hoffnung und der Entdeckung der Seligpreisungen" bleiben, „Orte, an denen die aus dem Gebet, der Quelle der Gemeinschaft, schöpfende Liebe zur Logik des Lebens und zur Quelle der Freude werden soll" (Vita consecrata, Nr. 51)! Als wahrnehmbarer Ausdruck einer Opfergabe des ganzen Lebens, welches in Vereinigung mit dem Leben Christi geführt wird, ruft das Leben in der Klausur dadurch, dass es die Gefährdung des Daseins spüren lässt, dazu auf, nur auf Gott allein zu zählen. Es schärft den Durst nach den Gnaden, die durch die Betrachtung des Wortes Gottes verliehen wer den. Es ist darüber hinaus „der Ort der geistlichen Gemeinschaft mit Gott und mit den Brüd
In diesen Tagen, die der Orden festlich begeht, bete ich inständig zum Herrn, er möge in den Herzen zahlreicher junger Menschen den Ruf ertönen lassen, alles zu verlassen, um dem armen Christus zu folgen auf dem Weg des Kartäuserlebens, der zwar viel fordert, jedoch auf ungeahnte Weise befreit. Ich lade ebenfalls die Verantwortlichen der Kartäuserfamilie ein, ohne Furcht auf die Rufe der jungen Kirchen zu antworten, Klöster auf ihrem Gebiet zu gründen.
In diesem Geist muss die Unterscheidung und die Ausbildung der Kandidaten, welche vorstellig werden, auf neue Weise die Aufmerksamkeit der Ausbilder beanspruchen. Denn unsere zeitgenössische Kultur, die geprägt ist von einer stark hedonistischen Einstellung, vom Besitzstreben und von einer gewissen irrigen Auffassung von Freiheit, macht es den jungen Menschen, welche ihr Leben Christus weihen wollen, nicht leicht, ihrer Großmut Ausdruck zu verleihen, wenn sie Christus nachfolgen wollen auf dem Weg einer hingebungsvollen Liebe, eines konkreten und edlen Dienstes. Die Vielschichtigkeit jedes persönlichen Lebensweges, die psychologische Zerbrechlichkeit, die Schwierigkeiten, die Treue in der Zeit zu leben, fordern dazu auf, dass nichts vernachlässigt wird, um jenen, die in die Wüste der Kartause einzutreten wünschen, eine Ausbildung zu gewährleisten, die alle Dimensionen der Person umfasst. Darüber hinaus schenke man besondere Aufmerksamkeit der Auswahl von Ausbildern, welche fähig sind, die Kandidaten auf dem Weg der inneren Befreiung und der Folgsamkeit gegenüber dem Geist zu begleiten. Und da man weiß, dass das brüderliche Leben ein grundlegendes Element auf dem Weg der gottgeweihten Personen ist, lade man schließlich die Kommunitäten dazu ein, vorbehaltlos die gegenseitige Liebe zu leben und dabei ein spirituelles Klima sowie einen Lebensstil zu entwickeln, die dem Charisma des Ordens angepasst sind.
Euch, liebe Söhne und Töchter der Kartause, die ihr die Erben des Charismas des heiligen Bruno seid, kommt es zu, in seiner ganzen Echtheit und Tiefe die Eigenart des geistlichen Weges zu bewahren, die er euch durch sein Wort und sein Beispiel aufgezeigt hat. Eure genussvolle Kenntnis Gottes, gereift im Gebet und in der Betrachtung seines Wortes, ruft das Volk Gottes auf, seinen Blick zu weiten zum Horizont einer neuen Menschheit auf der Suche nach der Fülle ihres Sinnes und der Einheit. Eure Armut, die ihr für die Ehre Gottes und das Heil der Welt darbietet, ist eine beredte Infragestellung der Logik der Rentabilität und Wirtschaftlichkeit, welche oft das Herz des Menschen und der Nationen vor den wahren Bedürfnisses ihrer Brüder verschließt. Euer mit Christus verborgenes Leben bleibt nämlich wie das stille Kreuz, das ins Herz der erlösten Menschheit gepflanzt ist, für die Kirche und die Welt das beredte Zeichen und die stete Erinnerung daran, dass jedes Wesen, gestern wie heute, sich von dem ergreifen lassen kann, der nichts als Liebe ist.
Ich vertraue alle Mitglieder der Kartäuserfamilie der Fürbitte der Jungfrau Maria an, der Mater singularis Cartusiensium (der einzigartigen Mutter der Kartäuser), dem Stern der Evangelisation im dritten Jahrtausend, und spende ihnen von Herzen den apostolischen Segen, den ich auch auf alle Wohltäter des Ordens ausdehne.
Im Vatikan, am 14. Mai 2001.
Gegründet von Univ.-Prof. Dr. James HOGG (Universität Salzburg), Herausgeber: Dr. James HOGG, Dr. Alain GIRARD (Direktor der Museen von Gard), Dr. Daniel Le BLEVÉC (Professor Universität Montpellier).
Einige Bände in deutscher Sprache oder mit Beiträgen in deutscher Sprache: